Stress als Lustkiller
Keine Lust auf Sex
“Wir haben schon seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen”, erzählt Mona, eine 38-jährige Werbekauffrau und Mutter von zwei Kindern. “Und ehrlich gesagt, habe ich auch gar keine Lust auf Sex. Im Gegenteil, ich bin froh, wenn ich abends meine Ruhe habe. Mein Mann und ich sind beide berufstätig und fallen oft todmüde ins Bett. Dabei lieben wir uns sehr und haben unsere Zweisamkeit immer genossen. Am meisten macht mir dieser Zwiespalt zu schaffen.”
“Was meinen Sie damit?”, frage ich sie.
“Nun ja, ich fühle mich oft hin und hergerissen. Manchmal habe ich schon Lust auf ein Schäferstündchen mit meinen Mann. Aber im selben Moment denke ich: Ach nee, dazu müsste ich mich erst im Büro freischaufeln, meine Eltern fragen, ob sie die Kinder nehmen oder einen Babysitter organisieren, um mit meinem Mann eine ungestörte Zeit zu verbringen. Das ist mir dann einfach zu stressig, und so lasse ich den Gedanken daran meistens wieder fallen. Und an einen spontanen Quickie zwischendurch, so wie wir das früher gemacht haben, ist überhaupt nicht mehr zu denken.”
Sex nach Terminkalender?
Es gibt Sex-Berater, die ihren Klienten raten, einen Wochenplan auszuarbeiten und zu schauen, wann sie z. B. an drei Tagen in der Woche jeweils eine Viertel- oder halbe Stunde Zeit haben. Es müsse ja nicht gleich zum Sex kommen. Man solle z. B. überlegen, womit man seinem Partner oder seiner Partnerin eine Freude bereiten könnte und solle dann der Natur ihren Lauf lassen.
Aber mal ehrlich: Würde dir das gefallen? Sex nach Terminkalender? Selbst, wenn es nicht zum Geschlechtsverkehr kommt und ihr eure Zeit einfach nur zu zweit miteinander verbringt (hoffentlich nicht mit Fernsehen oder Diskussionen über die Schulnoten der Kinder etc.). Willst du dich wirklich von deinem Smartphone mit einem blinkenden Herzchen daran erinnern lassen, dass heute Abend um 18.30 Uhr ein strategisch geplantes Liebesdate stattfindet? Wie romantisch ist das denn?
Aber ok, ich bin ja nicht der Maßstab aller Dinge. Wenn du und dein Partner damit klarkommt, macht es ruhig so. Jeder muss für sich ausprobieren, was funktioniert. Und wie sagte der amerikanische Psychotherapeut Steve de Shazer zu seinen Lebzeiten immer:
“Wenn etwas gut funktioniert, mache mehr davon. Wenn etwas nicht funktioniert, höre damit auf und mache etwas anderes.”
Seid also kreativ darin, euch eure Zeitnischen zu schaffen. Zeit, die nur euch beiden gehört. Zeit für Intimität, Erotik, Sinnlichkeit und Nähe.
Ich weiß, auch das ist oft nicht leicht, denn mit zunehmendem Stress geht nicht nur die Lust auf körperlichen Sex flöten, sondern auch die geistige Kreativität.
Und genau da gibt es einen sehr wichtigen Zusammenhang. Beides ist nämlich Ausdruck ein und derselben Energie.
Sexualität ist Schöpfungsenergie
Diese Schöpfungsenergie, Sexualkraft oder Geschlechtstrieb, ist die stärkste Energie in unserem Körper. Aus dieser Schöpfungsenergie sind wir hervorgegangen. Diese Kraft hält uns am Leben, stellt uns die Energie für unseren kreativen Ausdruck zur Verfügung und lässt uns neues Leben erschaffen.
Doch Sexualität ist mehr als nur ein koitaler Akt zwischen zwei Menschen. Sie ist auch nicht beschränkt auf Fortpflanzung.
Sexualität ist das universal gültige, naturgesetzliche »Partnerprinzip«, das jedem Austausch zugrunde liegt.
Walter Russell
Wenn du ein Bild malst, ein Haus baust oder ein Lied komponierst, so ist dies ebenfalls ein Ausdruck der Schöpfungskraft, die jedem Menschen innewohnt. Manchmal wird die geistige Kreativität blockiert, z. B. wenn wir unter Stress stehen, aber auch, wenn sich unsere Schöpfungsenergie zu sehr oder ausschließlich in körperlichen Aktivitäten “er-schöpft”. Um ihre Schöpfungskraft in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken, entscheiden sich manche Menschen sogar für sexuelle Enthaltsamkeit. Deshalb leben einige Schriftsteller z. B. während eines Buchprojektes eine Zeitlang in der Abgeschiedenheit. So werden sie nicht gestört, abgelenkt oder ihr kreativer Lauf durch sexuelle Aktivitäten blockiert.
Sind wir zu großem oder dauerhaftem Stress ausgesetzt, leidet zuerst unsere Schöpfungkraft. Sie schläft ein, und wenn wir sie nicht neu beleben können, verkümmert sie. Wir verlieren die Lust auf Sex, und unsere geistige Kreativität leidet über kurz oder lang auch. Uns gehen die Ideen aus. Wir funktionieren nur noch.
Woran liegt das?
Bei steigenden körperlichen und psychischen Belastungen schüttet der Körper vermehrt das Stresshormon Cortisol aus, das in der Nebennierenrinde gebildet wird. Cortisol und andere Stresshormone hemmen die Produktion des Sexualhormons Testosteron.
Darüber hinaus aktivieren sie das sympathische Nervensystem. Der Sympathikus versetzt den Körper in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft. Der Körper mobilisiert Energien, die er zum Kampf oder zur Flucht braucht. Die Pupillen weiten sich, das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen sich an und der Blutdruck steigt. Gleichzeitig wird die Durchblutung der Genitalien gehemmt.
Der Sympathikus hat auch einen Gegenspieler, den Parasympathikus oder das so genannte parasympathische Nervensystem. Es ist dann aktiv, wenn wir uns sicher, geborgen und entspannt fühlen. Der Parasympathikus regelt die Verdauung, den Schlaf und auch zentrale Bereiche unserer Sexualität. Die Anspannung, die wir für Sex brauchen, ist allerdings eine positive Anspannung. Negativer Stress legt unsere Lust lahm. Und das ist auch sinnvoll.
Stell dir mal vor, du befindest dich in einer Gefahrensituation, in der du weglaufen oder dich verteidigen müsstest. Da wäre eine Erektion nicht sonderlich hilfreich und würde dir im wahrsten Sinne des Wortes nur im Weg stehen
Sex und Sinnlichkeit
Erinnerst du dich daran, wie es sich anfühlt, wenn du verliebt bist?
Können Stress und Alltagsbelastungen dir etwas anhaben, wenn du bis über beide Ohren verknallt bist? Vielleicht, kommt drauf an, wie groß die Belastungen sind, nicht wahr? Aber irgendwie scheint im Zustand der Verliebtheit alles viel leichter zu gehen. Natürlich, es werden ja auch Unmengen an Freudehormonen ausgeschüttet. Wir strotzen vor Kraft und könnten die ganze Welt umarmen. Es fällt uns leicht, uns auf unseren Partner oder Partnerin einzulassen. Wir können auch nach einem anstrengenden Arbeitstag noch stundenlang miteinander im Bett herumtoben. Das ganze geht so lange, bis die erste Verliebtheit abebbt, das geschieht bei den meisten nach etwa eineinhalb Jahren. Und selbst dann ist noch genügend Energie für Lust und Sinnlichkeit da.
Der Stresstherapeut Louis Lewitan sagte bereits 1995 in einem Interview mit Focus Online: „Sex läuft über die Sinne. Wer gestresst ist, kann aber nicht mehr sinnlich sein, und damit verflacht sein Gefühlsleben.“
Der tägliche Lebenskampf erfordert Energie und kostet viel von unserer Lebenskraft. Wir verlieren die Lust an der Lust. Dieser ständige Stress führt dazu, dass wir oft nur noch funktionieren. Im schlimmsten Fall haben wir nicht einmal mehr Lust auf kulturelle Aktivitäten oder verlieren den Gefallen an den schönen Dingen des Lebens: Arbeiten — Essen — Schlafen — das war’s.
Je größer der negative Stress ist, desto stärker nimmt die sexuelle Lust ab.
Auch sexueller Leistungsdruck kann die Lust mindern. Die Erwartung, den Ansprüchen des Partners genügen zu wollen oder auch selbst Lust empfinden zu müssen, erhöhen den Druck nur noch mehr.
Umso wichtiger ist es, dass du mit deiner Partnerin oder deinem Partner über deine Gefühle und Sorgen diesbezüglich sprechen kannst. Oft sind es nämlich auch Scham oder Unsicherheit, die den Stress zusätzlich fördern. Das muss nicht sein. Eine vertrauensvolle Partnerschaft ist hier das A und O.