Seine Bedürfnisse zu kennen ist das eine, sie zu äußern das andere. Aber für die Befriedigung seiner Bedürfnisse einzustehen und sie durchzusetzen, ist nochmal ein Zacken schärfer.
Kennst Du Deine Bedürfnisse?
Damit meine ich nicht das Verlangen nach etwas, was Dir kurzfristig Befriedigung verschafft und danach immer und immer wieder erzeugt werden muß, um die Leere in Dir zu füllen.
Ich meine echte Bedürfnisse, wie z. B. das Bedürfnis nach Ruhe, das Bedürfnis nach Ordnung oder das Bedürfnis nach Sicherheit.
Ich treffe mich einmal im Monat mit ein paar Berufskolleginnen. Wir sind alle etwa im gleichen Alter und jede von uns hat mit kleineren und größeren Hürden im Leben zu kämpfen. Bei unseren Treffen sprechen wir über unsere beruflichen und privaten Erfolge und Mißerfolge und beratschlagen, wie wir uns gegenseitig unterstützen können.
Meist kristallisiert sich im Laufe des Abends ein bestimmtes Thema heraus, über das sich dann angeregt ausgetauscht wird. Ich nehme aus unseren Gesprächen oft interessante Impulse und neue Sichtweisen mit, die ich dann die Tat umsetze. Na ja, zumindest versuche ich es. Gestern ergab sich das Thema “Für seine Bedürfnisse einstehen”.
Das Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung
Anke erzählte uns dabei die Geschichte von einer Weiterbildung, die sie vor einigen Jahren machte. Diese Weiterbildung gliederte sich in verschiedene Module. Und in jedem neuen Modul kamen neue Teilnehmer hinzu.
Die “alten” Teilnehmer hatten bereits ihre festen Sitzplätze mit den dazugehörigen Sitznachbarn. Und jedes Mal, wenn ein neues Modul begann, setzten die Neuen sich einfach auf den Platz, der ihnen gerade gefiel, und die ganze Sitzordnung geriet durcheinander.
Anke kam an diesem Tag ein paar Minuten zu spät zum Unterricht, und wie der Teufel es will, saß auf ihrem Stammplatz ein Mann. Er hatte eine Managerposition inne und war es gewohnt, Anweisungen zu geben. Anke schaute sich kurz im Raum um und bemerkte, daß die Sitzordnung völlig durcheinander war. Jeder, auch die alten Teilnehmer, saß auf einem anderen Platz als beim letzten Ausbildungsmodul.
Du sitzt auf meinem Stuhl
Anke war nicht auf den Mund gefallen, ging zu dem Mann und sagte zu ihm: “Das ist mein Platz, Du sitzt auf meinem Stuhl.” Der Mann schaute sie amüsiert an und meinte nur, sie könne sich ja da vorne in die erste Reihe setzen, da sei ja noch was frei.
Anke bestand jedoch darauf, daß sie auf ihrem Platz sitzen konnte. Ihre beiden Sitznachbarn saßen auch nicht mehr dort, wo sie sonst gesessen hatten. Die anderen Teilnehmer/innen und die Dozentin waren sichtlich genervt von Ankes Beharrlichkeit und meinten, ihr Verhalten sei überzogen. Aber Anke war es nunmal wichtig, daß sie in einer Weiterbildung auf ihrem festen Platz sitzen kann mit den Sitznachbarn, die sie gerne neben sich hat. Es ist ja auch eine Frage der Sympathie und auch der Energie. Man will nicht jeden neben sich sitzen haben und will auch nicht neben jedem sitzen. Und wenn man den ganzen Tag in einer Weiterbildung verbringt, ist es schon wichtig, eine gewisse Ordnung (in diesem Fall Sitzordnung) einzuhalten. Sonst sucht jeden Tag jeder einen neuen Platz. Das war für Anke ein absolutes No-Go. Und dies machte sie auch deutlich.
Stand up for your needs — für Deine Bedürfnisse einstehen
Der Typ auf ihrem Platz schien sichtlich darüber amüsiert zu sein, wie Anke sich ereiferte und immer aufgeregter wurde. Auch die anderen Teilnehmer/innen machten inzwischen ihre Bemerkungen. Aber unsere Anke stand hinter dem Stuhl, auf dem der Typ saß und sagte zu ihm: “Ich bleibe so lange hinter Dir stehen, bis Du aufstehst.”
Das imponierte ihm wohl, denn er war es als Manager nicht gewohnt, dass ihm jemand derartig Paroli bot. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Typ stand tatsächlich auf und räumte Ankes Platz.
Doch nicht nur das, plötzlich gab es eine Heidenunruhe im Raum, weil die anderen Teilnehmer auch auf ihre angestammten Plätze wollten, besonders die beiden Kollegen rechts und links von Anke, mit denen sie von Anfang an zusammengesessen hatte.
Nachdem dann jeder seinen neuen bzw. alten Platz eingenommen hatte, konnte der Unterricht endlich beginnen.
Für seine Bedürfnisse einzustehen lohnt sich
Doch glaube bitte nicht, lieber Leser, dass Anke sich bei dieser Aktion wohlgefühlt hätte. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich sehr alleine gelassen und raunte sogar noch ihre beiden Sitznachbarn an, warum sie ihr ihre Plätze nicht freigehalten hatten. Die ganze Aktion war sehr unschön und war ihr auch sichtlich peinlich. Man sprach noch zwei Tage lang darüber. Anke entschuldigte sich bei den Teilnehmern für die Umstände, machte aber unmißverständlich klar, worum es ihr ging und warum ihr dies so wichtig war.
Das Ende vom Lied war: Am nächsten Tag gaben die anderen Teilnehmer zu, daß Anke genau richtig gehandelt hatte. Sie hatten sich zwar fürchterlich geärgert, aber nicht über Ankes Verhalten, sondern mehr darüber, daß sie selbst nicht den Mumm gehabt hatten, für ihre Bedürfnisse einzustehen. Viele Teilnehmer bestätigten, daß sie auch gerne auf ihrem alten Platz gesässen hätten, aber als die Neuen diese besetzt hatten, hätten sie sich eben gefügt.
Man könnte jetzt denken, dass Anke wohl etwas engstirnig, kleinkariert oder gar rücksichtslos sei. Aber weit gefehlt. Sie ist eine Frau mit einem herrlichen Humor, die in schwierigen Konfliktsituationen total souverän reagieren kann. Und wenn es um Bedürfnisse geht, die ihr absolut wichtig sind, benennt und erklärt sie das glasklar und steht dafür ein.
Wer kann das schon von sich behaupten? Kannst Du für das, was Dir wichtig ist, einstehen und es durchsetzen? Nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugungskraft.
Mut kostet Kraft
Viele nehmen sich heutzutage rücksichtislos, was sie haben wollen, ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen haben könnte und ob sie andere damit vor den Kopf stoßen, so wie die neuen Teilnehmer in Ankes Kurs.
Da war es gut und richtig, dass Anke deutlich gemacht hatte, daß das so nicht geht.
Allerdings kostete sie diese Aktion ganz schön viel Kraft. Es war ihr keineswegs einerlei, dazustehen und ihre Position zu verteidigen, während alle sie anstarrten und die ganze Aufmerksamkeit auf ihr lag. Aber es mußte sein, und im Endeffekt bekam sie von den anderen die Bestätigung dafür.
Der Typ, mit dem sie sich um ihren Platz stritt, ist Anke ein guter Freund geworden. Die beiden verstehen sich super und kommen bestens miteinander aus.
Was lernen wir daraus?
Wenn Du Deine Bedürfnisse und Motive klar und nachvollziehbar zum Ausdruck bringst, gibst Du anderen die Möglichkeit, Dich besser zu verstehen und sich entsprechend zu verhalten. Menschen brauchen Orientierung und klare Ansagen. Damit fahren sie am besten. Leider können nur wenige solche klaren Ansagen machen, ohne anderen damit Schaden zuzufügen.
Und es braucht Mut, sich gegen die versammelte Mannschaft zu stellen und sich zu behaupten. Doch bei Anke hat es zum Erfolg geführt, und für die anderen war es auch nicht zum Nachteil.
“Die Gewohnheit des Denkens sagt nichts über dessen Richtigkeit aus.”
- Thorwald Dethlefsen -