Dieser Beitrag ist allen gewidmet, die Opfer einer Straftat geworden sind und richtet sich ebenso an Helfer und Interessierte. Der Umgang mit Opfern ist eine große Herausforderung für Sachbearbeiter, Polizisten, Therapeuten und Berater, aber natürlich auch für Politik und Gesellschaft. Bei den Begriffsdefinitionen und dem Verständnis vom Opferbegriff gehen die Meinungen weit auseinander. Sind Angehörige von Mordopfern auch Opfer oder gelten sie weiterhin als Hinterbliebene? Eine neue EU-Richtlinie verspricht hier mehr Klarheit. Doch leider weigert sich die Bundesregierung bislang, den Opferbegriff, so wie ihn die EU vorgibt, in nationales Recht zu übernehmen. Eine Katastrophe für betroffene Angehörige…
Wer oder was ist ein Opfer?
Die nachfolgenden Informationen basieren auf einem Abriss von Prof. Dr. Ute Ingrid Haas (Professur für Kriminologie und Viktimologie an der Ostfalia, Hochschule für angewandte Wissenschaften). Ich habe sie hier zusammengefasst:
Die Viktimologie (= Wissenschaft, die sich mit der Lehre vom Opfer befasst) gibt uns einen Überblick über verschiedene Begriffsdefinitionen.
Die deutsche Übersetzung des englischen Wortes “victim” bedeutet “Opfer, Geschädigter, Verletzter, Leidtragender”[1].
Im juristischen Wörterbuch[2] wird der Opferbegriff mit “Darbietung einer Gabe, Erduldung eines Übels” erklärt. Hier gibt es jedoch eine erhebliche Abweichung. Die Darbietung einer Gabe ist ein Vorgang, bei dem der Mensch aktiv tätig ist, während das erduldete Übel ein passiver Vorgang desjenigen ist, der das Übel erleiden muss.
Der lateinische Ursprung des Opferbegriffs “operare” wird mit “arbeiten, der Gottheit (durch Opfer) dienen” übersetzt. In einem weiteren Nachschlagewerk bedeutet Opfer auch “Spende, Hingabe von etwas, das man schmerzlich entbehrt”; ein Opfer ist ein “Mensch, der ein Übel erdulden muss”[3].
In unserer modernen Sprache wird der Opferbegriff oft als Schimpfwort benutzt. Aussagen, wie “du Opfer, ich mach dich fertig…”, sind leider keine Seltenheit. Damit wird eine Abwertung gegenüber einer Person ausgedrückt, die man für weniger stark, weniger liebenswert oder gar verachtenswert hält.
Aktive und passive Opfer
In der Viktimologie sind die Gedankengänge zum Begriff “Opfer” verknüpft mit Empfindungen wie Leiden, Erdulden, eine unangenehme Situation aushalten müssen. Es wird also von einer passiven Haltung des Opfers ausgegangen.
Ein Opfer zu bringen bedeutet im heutigen Sprachgebrauch immer noch, eine Leistung zu erbringen, die mit einem hohen Aufwand, einer großen Überwindung oder sogar mit Schmerz einhergeht. Hier wird also ein aktives Element mit dem Begriff des Opfers verbunden. Es gibt immer wieder Diskussionen im Hinblick auf die Position des Opfers im Tatgeschehen. Hier geht es um die Frage, ob das Opfer auch zu Aktionen fähig ist oder nur eine passive Rolle innehat.
Auch wurde viel darüber debattiert, ob die Viktimologie Opfer von Menschenrechtsverletzungen einschließlich Straftaten umfasst[4], der so genannte “weite Opferbegriff”. Oder beschränkt sie sich ausschließlich auf die Wissenschaft vom Verbrechensopfer[5], den “engen Opferbegriff”?
EXKURS: Was ist der Unterschied zwischen einer Straftat und einem Verbrechen? Straftaten sind Handlungen, die im Strafgesetzbuch (StGB) erfasst und deren Rechtsfolgen dort geregelt sind. Straftaten untergliedern sich wiederum in Vergehen und Verbrechen. Nach § 12 StGB handelt es sich bei Verbrechen um strafbare Handlungen, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsentzug oder darüber geahndet werden. Vergehen sind rechtswidrige Taten, die mit weniger als einem Jahr Freiheitsentzug oder mit Geldstrafe belegt sind.
Letztlich hat sich der enge Opferbegriff für die Viktimologie durchgesetzt. So wird die Viktimologie als die “Wissenschaft vom Verbrechensopfer” definiert. Sie beschäftigt sich darüber hinaus mit dem sozialen Phänomen der Opferwerdung und seinen Wirkungen auf das Opfer.
Wie wird ein Mensch zum Opfer? — Erklärungsansätze der Viktimologie
Niemand wird Opfer eines Verbrechens, weil er als Opfer geboren ist[6]. Die Viktimologie geht vielmehr davon aus, dass alle Menschen dem Risiko unterliegen, einmal Opfer zu werden. Von der Ansicht, dass das Opfer in einem bestimmten Ausmaß an der Tat beteiligt ist, bis hin zu der Unterstellung, das Opfer habe eine Mitschuld oder Teilschuld, ist es nur ein kleiner Schritt. Aus dieser Sicht versuchte man in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, eine Opfertypologie auf Basis des Grades der Mitschuld eines Opfers vorzunehmen[7].
Diese zugeschriebene Mitverantwortung kann jedoch schnell zu einer “Selber schuld!-Attitüde”[8] werden und außerdem eine Verschiebung der bislang eindeutigen Täter-/Opferrollen zur Folge haben. Leider ist dieses Denken auch heute noch in der Bevölkerung weit verbreitet. Ute Ingrid Haas, Professorin für Kriminologie & Viktimologie an der FH Wolfenbüttel, meint hierzu: “Dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung kommen festschreibende und plakative Typologien eher entgegen als die schwer greifbare Dynamik eines Tatgeschehens”[9].
Nach zahlreichen Opferbefragungen kam man zu der Erkenntnis, dass beinahe jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal Opfer einer Straftat wird (Sachbeschädigung, Diebstahl, Beleidigung etc.). Ebenso stellte man fest, dass fast alle Männer mindestens einmal im Leben eine Körperverletzung erleiden[10].
Demzufolge hat also jeder Mensch grundsätzlich ein verdecktes Risiko, Opfer einer Straftat zu werden. Doch wie sieht es im Bereich der schweren Gewaltkriminalität aus, wo es z. B. um schwere Körperverletzung, bewaffneten Raubüberfall oder gar Mord geht? Hier verändert sich das Risiko der Opferwerdung deutlich. Von solchen Straftaten wird nicht jeder betroffen, hier geht die Zahl der Geschädigten deutlich nach unten. Allerdings sind die psychischen Auswirkungen für die Opfer weitaus dramatischer.
Die Viktimologie hat bei ihren Forschungen herausgefunden, dass einige Bevölkerungsgruppen ein besonders hohes Risiko haben, Opfer einer Straftat zu werden. Dies sind besonders Frauen, Kinder und alte Menschen als Opfer von körperlichen Misshandlungen, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch oder häuslicher Gewalt.
Die Täter, die diese Opfer schädigen, kommen aus dem engeren sozialen Umfeld oder sogar aus der eigenen Familie, z. B. der liebe Onkel von nebenan, der eigene Vater, Ehemann, Chef, Lehrer, Priester usw.
Ein weiterer Erklärungsansatz für die Opferwerdung ist das so genannte situationsorientierte Gewohnheits- oder Gelegenheitsmodell. Hier wird das Risiko, Kriminalitätsopfer zu werden, davon abhängig gemacht, zu welchen Zeiten und unter welchen Umständen sich Personen an bestimmten Orten aufhalten und mit bestimmten Menschen zusammen sind. Man schaut also darauf, wie viele Stunden Menschen außer Haus verbringen, wie oft sie abends ausgehen, und wann sie nachts zurückkehren. Ebenfalls wird betrachtet, welche Lokale und Etablissements besucht werden und wie eng der Kontakt zur Nachbarschaft ist.
Auch dieses Erklärungsmodell unterstellt dem Opfer eine gewisse Mitschuld bzw. Mitverantwortung aufgrund seines Lebensstils.
Nun könntest Du einwerfen, dass es doch ganz normal ist, zwei oder dreimal in der Woche in eine Kneipe zu gehen, eine After-Work-Party oder Disco zu besuchen, sich mit Kollegen oder Freunden zu treffen, ein Feierabendbierchen zu “zischen” und abends spät nach Hause zu gehen.
Doch wer legt fest, welcher Lebensstil normal ist? Dies ist eine individuelle Angelegenheit und kann nicht vereinheitlicht werden. “Wat dem eenen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall”. Und müsste unter diesem Gesichtspunkt nicht das normale Leben bereits als Risiko betrachtet werden, Opfer einer Straftat zu werden?
Seit Jahren bemüht sich die Viktimologie um mehr Transparenz im Prozess der Opferwerdung. So wie die Kriminologie versucht, die Entstehung kriminellen Verhaltens zu erklären, so hat die Viktimologie versucht, Erklärungsansätze für die Opferwerdung zu finden. Doch mit einer Theorie alleine lässt sich nicht die ganze Bandbreite der Ursache des Opferwerdens (Viktimogenese) aufdecken.
Kann es überhaupt eine Theorie der Opferwerdung geben oder müssen wir damit leben, dass es einfach unterschiedliche Ursachen dafür gibt? Warum wurde Hans Opfer und Franz nicht? Prof. Haas meint hierzu, dass sich die Dynamik zwischen Täter und Opfer als zu individuell erweist, als dass man hieraus allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten festlegen könnte.
Die 4 Arten der Viktimisierung
(viktimisieren = zum Opfer machen)
Primäre Viktimisierung
meint das schädigende Ereignis an sich. Wenn Du unmittelbar von einer Gewalttat betroffen bist, also durch eine andere Person an Leib und Seele verletzt wurdest.
Sekundäre Viktimisierung
Es handelt sich hierbei um Einflüsse, die das Opfer im Anschluss an die Tat bzw. parallel zur primären Viktimisierung noch schädigen. Im Klartext heißt das, dass es sich um Äußerungen oder Verhaltensweisen von Verwandten, Polizeibeamten, Richtern und Anwälten, aber auch Therapeuten und Helfern handelt, die das Opfer sekundär viktimisieren können. Als Beispiel seien hierfür unangemessene Befragungen, die unvorbereitete Begegnung mit dem Täter oder Vorwürfe, man sei ja selber schuld, genannt. Aber auch Äußerungen von Verwandten und nahestehenden Personen können das Opfer zusätzlich schädigen, z. B. “Jetzt ist es doch schon ein Jahr her, so langsam müsstest Du doch drüber weg sein etc.”
So wird das Opfer zusätzlich zur ursprünglichen Traumatisierung viktimisiert und re-traumatisiert.
Besonders paradox ist dies dann, wenn das Opfer seinen Opferstatus bzw. seine Rechte als Opfer bei Behörden und Institutionen geltend machen möchte. Dafür, dass das Opfer sich als solches zu erkennen gibt, zahlt es mitunter einen hohen Preis. Die sekundäre Viktimisierung trifft die Opfer oft härter als die eigentliche Tat.
Tertiäre Viktimisierung
bezeichnet das Instrumentalisieren der Opfer für eigene Zwecke; wenn also Opfer beispielsweise von Forschung, Politik, Justiz oder Medien missbraucht werden, um Karrieren zu fördern, Lobbyarbeit zu betreiben (z. B. wenn das Leid der Opfer dazu benutzt wird, für die Täter eine härtere Bestrafung einzufordern) oder die Aussicht auf den Pulitzerpreis zu steigern, ohne das Opfer vorher zu fragen. Diese Form der Viktimisierung geschieht in aller Regel bewusst.
Quartäre Viktimisierung
bedeutet die Herabwürdigung des Opfers von bestimmten Personen oder Personengruppen, wodurch das Opfer erneut geschädigt wird. Am Beispiel von Vergewaltigungsopfern lässt sich das am besten erklären:
Der Vorwurf an ein Vergewaltigungsopfer, seine Beschuldigung sei frei erfunden oder eine Schutzbehauptung, führt bei Frauen zu massiven Problemen. Immer wieder wird den Frauen vorgeworfen, den Täter zu Unrecht beschuldigt zu haben, obwohl dies im Bereich der Vergewaltigungen tatsächlich nur sehr selten vorkommt. Das führt dazu, dass viele nach einer Vergewaltigung unsicher sind und sich fragen, ob sie etwas falsch gemacht haben. Manche Frauen trauen sich gar nicht, überhaupt Anzeige zu erstatten, weil sie bereits mit Vorhaltungen und Falschanschuldigen rechnen.
Ein anderes Beispiel liegt in der Verwendung des Begriffes “Du Opfer”, was besonders in der Jugendsprache widerklingt. Damit werden Menschen gezielt gedemütigt und entwürdigt…
Der zweite Teil des Artikels erscheint bereits morgen. Dann geht es weiter u. a. mit diesen Themen:
- Festlegung des Opferbegriffes durch die EU-Richtlinie 2012/29/EU
- Die Anerkennung als Opfer durch die öffentliche Hand
- Welchen Opferstatus haben Angehörige von Tötungsverbrechen
- Opferstatus und Opferrolle
- Aus der Opferrolle aussteigen
- Hinweis auf Opferberatungsstellen
[1] Romain 1983, S. 812
[2] Köbler 1986, S. 239
[3] dtv-Lexikon Bd. 13
[4] Kirchhoff 1996, S. 37
[5] Schneider 1998, S. 316
[6] Schneider 1998, S. 326
[7] von Hentig 1948, Mendelsohn 1956
[8] Greve et al. 1994, S. 10
[9] siehe hierzu auch Baurmann 1996, S. 33 ff
[10] Schneider 1998, S. 321
Literatur
BAURMANN, M.C. & W. SCHÄDLER (1996): Opferbedürfnisse und Opfererwartungen. In: Das Opfer und die Kriminalitätsbekämpfung. – BKA-Forschungsreihe, Bd. 36, Bundeskriminalamt Wiesbaden.
GREVE, W., R. STROBL & P. WETZELS (1994): Das Opfer kriminellen Handeln: Flüchtig und nicht zu fassen. Konzeptuelle Probleme und methodische Implikationen eines sozialwissenschaftlichen Opferbegriffs. – KFN Forschungsberichte Nr. 33, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.
HENTING von, H. (1948): The criminal and his victim. Studies in the Sociobiology of crime. – Archon Books.
KIRCHHOF; G.F. & K. SESSAR (Hrsg.) (1979): Das Verbrechensopfer. Ein Reader zur Viktimologie, Studienverlag Brockmeyer.
KÖBLER, G. (1986): Juristisches Wörterbuch, Vahlen Verlag.
MENDELSOHN, B. (1956): Une nouvelle Branche de la Science bio-psycho-sociale: La Victimologie. – Revue Internationale de Criminologie et de Police Technique 10, S. 95 ‑109.
ROMAIN, A. (1983): Beck’sche Rechts- und Wirtschaftswörterbücher. Englisch-Deutsch, C.H. Beck.
SCHNEIDER, H.-J. (1998): Der gegenwärtige Stand der kriminologischen Opferforschung. In: MschrKrim 81. Jahrgang, Heft 5, S. 316 – 344.