Wie der Geburtsprozess unser Leben prägt
Nicht nur Mütter und Väter können die Geburt ihres Kindes als belastend oder gar traumatisierend erleben, sondern auch das Baby selbst.
Wir verbringen viele Monate im Bauch unserer Mutter. Wir schwimmen geschützt und geborgen in der Schwerelosigkeit der Fruchtblase und erleben eine Zeit des Wachsens und Versorgtseins. Dieses “ozeanische Gefühl des Einsseins” wird jäh unterbrochen, wenn der Geburtsprozess eingeleitet wird. Entweder durch den Embryo selbst oder durch künstliche Einleitung.
Geburtstrauma — jetzt wird’s eng
Der Embryo muss den Weg nach draußen finden, um zu überleben. Er macht sich auf den Weg ins Unbekannte. Dabei weiß er nicht, wie lange und mühsam dieser Weg werden wird. Eine Geburt kann schnell gehen, sie kann aber auch viele Stunden dauern, und das ist nicht nur für die Mutter, sondern auch für das Baby extrem anstrengend.
Der Geburtsprozess kann leicht und kurz sein, aber auch zu schnell (Sturzgeburt), zu schwer oder kompliziert (z. B. Steißlage, Zangengeburt etc.). Der Temperatursturz von ca. 15 Grad, das grelle Licht im Kreißsaal, laute Geräusche oder Stimmen sowie das technische Agieren der Geburtshelfer können das Nervensystem des Babys extrem belasten, so dass es in einen Schockzustand geraten kann. Dieser Schockzustand wird Geburtstrauma genannt.
“Der Beginn des Lebens auf der Erde ist der Moment des ersten Atemzugs. Die sofortige Durchtrennung der Nabelschnur unterbricht die Versorgung für das Neugeborene und es muss atmen, aus der panischen Angst heraus zu ersticken und zu sterben. So jedenfall sah der Beginn des Lebens auf dieser Erde für viele von uns aus. Es ist das große Verdienst von Frédérick Leboyer, einem französischen Gynäkologen, der einfühlsam die Torturen des Babys nachvollzog und uns darauf aufmerksam machte, wie früh wir der Autonomie und Selbstbestimmung beraubt wurden. Sein Buch “Geburt ohne Gewalt” erschien Anfang der 70er Jahre und hat zu einer neuen Offenheit und zu bewussteren Geburtspraktiken geführt¹.”
Frédérick Leboyer (*1918) gilt als der Vater der sanften Geburtsmedizin.
Nach seiner Forderung soll das Neugeborene sanft und liebevoll und ohne unnötigen Stress auf die Welt gebracht werden. Aus der Geborgenheit des Mutterleibes soll sich das Baby langsam an die körperliche Veränderung gewöhnen dürfen. Hierzu gehören folgende Maßnahmen:
- Das Neugeborene soll der Mutter auf den Bauch gelegt werden, um die Wärme zu spüren und die Herztöne der Mutter zu hören. So soll sich das Baby von den Strapazen der Geburt erholen.
- Die Nabelschnur wird nicht unmittelbar nach der Geburt durchtrennt, dadurch soll dem Kind die Umstellung auf die selbständige Atmung leichter fallen.
- Kind und Mutter wird Zeit gegeben, sich erst einmal kennenzulernen. Erst danach wird das Neugeborene warm gebadet und dann zum ersten Mal an die Brust gelegt.
- Mit dem Kind soll sanft umgegangen werden, falls keine besonderen medizinischen Maßnahmen erforderlich sind.
- Das Entbindungszimmer soll besonders warm und das Licht gedämpft sein, damit sich das Kind an den Übergang gewöhnen kann.
Leboyers Bücher werden vielfach zu Geburtsvorbereitungen genutzt. Er lebt heute als Schriftsteller in der Schweiz².
Die Art, wie wir geboren werden, prägt unsere späteren Lebensmuster
Dr. Ines Howe, Atemtrainerin und Leiterin des Atman-Institutes in Berlin³ sagte in einem Interview mit der Zeitschrift “Sein” im März 2011: “…die Muster, die unser Bewusstsein während der Geburt prägen, sind unsere Überlebensstrategien. Jedes Mal, wenn wir durch eine schwierige Phase der Veränderungen gehen oder in Stress-Situationen geraten, wird die Blaupause unserer Geburt aktiviert. Aber: Nicht, was faktisch während der Schwangerschaft und der Geburt geschieht, prägt unsere Persönlichkeit, sondern unsere “Antwort” darauf, wie wir die Geburt erlebt und welche Entscheidungen wir während des Geburtsprozesses getroffen haben. Der Weg durch den Geburtskanal ist für den Embryo unter Einsatz seines ganzen Körpers, seiner ganzen Kraft und mit der wirksamen Unterstützung der mütterlichen Wehen zu bewältigen.”
Auf diesem Weg können Überzeugungen und Lebensmuster entstehen, wie z. B.
- Das Leben ist schwer
- Ich muss härter arbeiten als andere, um das gleiche zu erreichen
- Ich fühle mich hilflos
- Ich muss es alleine schaffen
- Nur wer hart arbeitet, wird erfolgreich sein
- Das Leben ist ein einziger Kampf
- Ich muss mir alles mühevoll erwerben, während anderen alles zufällt
- Es gibt keinen Ausweg
- Ich muss kämpfen, um zu überleben
- Ich schaffe es nicht
Wenn die Geburt künstlich herbeigeführt wurde, kann die Überzeugung entstehen, fremdbestimmt zu sein und nicht selbst über Art und Zeit des Geschehens bestimmen zu können. Diese Menschen werden später alles daran setzen, es alleine zu schaffen, um diesen Schmerz nicht mehr erleben zu müssen (“Ich muss es alleine schaffen”).
Werden Zwillinge geboren, erleben sie nicht nur die Trennung vom schützenden Mutterleib, sondern auch die Trennung vom Zwilling. Diese Erfahrung löst einen tiefen Schmerz und ein Gefühl des Verlassenseins und Alleinseins aus.
Komplikationen bei der Geburt, wie z. B. Kaiserschnitt, Zangengeburt, Steißlage oder Nabelschnur-Umschlingung, ein extrem langer Geburtsprozess, der Gesundheitszustand der Mutter, die familiäre, finanzielle und/oder psycho-soziale Situation zur Zeit der Geburt hinterlassen entsprechende Geburtsblaupausen.
Um mit diesen schmerzlichen Erfahrungen überleben zu können, werden sie ins Unterbewusstsein verschoben. Dort wirken sie im Verborgenen und bestimmen, wie wir uns selbst, die Welt und andere Menschen sehen und auf Situationen und Anforderungen reagieren. Sie wirken sich auf viele unserer Lebensthemen aus, z. B. wie wir uns in Beziehungen verhalten, wie wir auf Druck und Stress reagieren, wie wir mit Problemen umgehen. Sie haben Auswirkungen auf unsere Angst, keinen Ausweg zu finden, beeinflussen unser Selbstwertgefühl, unser Ess- und Schlafverhalten, die Beziehung zu uns selbst, unserem Körper, unserer Sexualität und unsere Fähigkeit, Liebe und Freude zu empfinden und zu geben.
Neugeboren — Wege aus dem Geburtstrauma (Rebirth)
Ich selbst kam drei Wochen zu spät zur Welt, die Nabelschnur war ein paarmal um meinen Hals gewickelt und ich war schon blau angelaufen. Noch heute kann ich keine engen Rollkragenpullis tragen oder Halsketten, die nicht mindestens 45 cm lang sind. Auch trage ich immer noch Prägungen aus dem Geburtsprozess mit mir herum. So habe ich auch jahrelang die Überzeugung vertreten, dass ich es alleine schaffen muss, dass ich kämpfen muss, um zu überleben oder dass ich oft den Menschen am meisten weh tue, die ich am meisten liebe. Um Hilfe zu bitten, fiel mir oft schwer.
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass alles, was verletzt wurde, auch wieder heilen kann.
“Es ist nie zu spät, die emotionalen und spirituellen Wunden der ersten prägenden Erfahrungen zu heilen, egal wie lange die Geburt zurück liegt. Im Körpergedächtnis der Zellen sind alle Erinnerungen gespeichert. Wenn wir die Tür zu unseren dort festgehaltenen Gefühlen aus der Vergangenheit zu öffnen beginnen, fangen wir an, uns zu erinnern und emotional und spirituell zu heilen”, so Dr. Ines Howe.
Auf welche Art du deinen Heilungsprozess angehst, ist deine persönliche Sache. Es gibt viele Möglichkeiten, an die Prägungen deiner Geburt heranzukommen, z. B. durch spezielle Atem-Meditationen (holotropes Atmen, integratives Atmen, Quantum Light Breath) oder durch Trancearbeit (Hypnose, Rückführung), SeiFu, Somatic Experiencing und vieles mehr.
Um diesen Artikel mit etwas Humorigem abzuschließen, möchte ich allen werdenden Eltern das Büchlein von Willy Breinholst “Hallo, hier bin ich!” ans Herz legen. Es schildert die Schwangerschaft und Geburt aus Sicht des Babys im Mutterleib. Ich habe es während meiner eigenen Schwangerschaft vor vielen Jahren gelesen und habe mich köstlich amüsiert.
1, 3 Dr. Ines Howe, Praxis für Integratives Atmen und Leiterin des Atman-Instituts in Berlin: http://www.atman-institut.de
2 Wikipedia: Frédérick Leboyer
Literatur:
Breinholst, Willy (1980): Hallo, hier bin ich! — Bastei Lübbe
Griscom, Chris (1990): Meergeboren. - Goldmann Verlag