Trauma und Trauer

Wie unter­schei­det man Trau­ma und Trauer?

Die aktu­el­len Mel­dun­gen in den Nach­rich­ten berich­ten von Men­schen, die trau­ernd vor einem Meer aus Blu­men für die Opfer der jüngs­ten Ter­ror­an­schlä­ge in Paris ste­hen. Wann immer sol­che Schre­ckens­er­eig­nis­se pas­sie­ren, sei es durch Bom­ben­at­ten­ta­te, Flug­zeug­ab­stür­ze oder Natur­ka­ta­stro­phen — wird sofort von trau­ern­den Men­schen gesprochen.

Trau­ma und Trau­er — zwei ver­schie­de­ne Schuhe

Trau­ern tun Men­schen, die Freun­de und Ange­hö­ri­ge ver­lo­ren haben, sicher­lich, und zwar jeder auf sei­ne ganz indi­vi­du­el­le Weise.

Aller­dings muss man hier auch ganz klar sagen, dass Trau­er einer­seits ein Gefühl des Ver­lus­tes und des Schmer­zes und ande­rer­seits auch ein Pro­zess ist. Trau­er setzt nicht unmit­tel­bar nach einem Schre­ckens­er­eig­nis ein. Im Vor­der­grund steht hier­bei nicht das schmerz­li­che Gefühl, son­dern der Schock.

Exper­ten wer­den hier viel­leicht ein­wer­fen, dass die Schock­pha­se einen Teil des Trau­er­pro­zes­ses dar­stellt. Nun, wenn man die in den 1970er Jah­ren ent­wi­ckel­ten Trau­er­pha­sen zugrun­de­legt, mag das theo­re­tisch so anmu­ten. In der Pra­xis sieht die Sache aber oft ganz anders aus.

Schau­en wir uns zunächst die vier Trau­er­pha­sen ein­mal an:

Das Vier­pha­sen­mo­dell der Trau­er nach Yorick Spiegel

(Quel­le: www.trauerphasen.de)

Der Theo­lo­ge Yorick Spie­gel hat mit sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift „Der Pro­zeß des Trau­erns. Ana­ly­se und Bera­tung“ aus dem Jahr 1972 ein eben­falls vier­pha­si­ges Modell vor­ge­legt, wel­ches die Schwer­punk­te jedoch ein wenig anders setzt als Vere­na Kast. Er ori­en­tiert sich mehr an den Gefüh­len und dem Umgang damit und beob­ach­tet dabei unter­schied­li­che Ver­hal­tens­wei­sen, die für die Pha­sen cha­rak­te­ris­tisch sind. 

DIE SCHOCKPHASE
Die­se Pha­se setzt unmit­tel­bar nach dem Erhalt der Todes­nach­richt ein und lässt die Men­schen in einen Zustand der Läh­mung ver­fal­len. Wie groß der Schock ist und wie lan­ge die­se Pha­se dau­ert (eini­ge Stun­den oder weni­ge Tage), hängt unter ande­rem davon ab, ob der Tod erwar­tet wur­de  — auf­grund einer Krank­heit oder hohen Alters -, oder ob er völ­lig uner­war­tet ein­ge­tre­ten ist – Unfall, Sui­zid oder ähnliches. 

Die Reak­tio­nen wäh­rend die­ses Schocks kön­nen sehr unter­schied­lich sein. Man­che Men­schen neh­men ihre Umwelt gar nicht mehr wahr und sind kaum ansprech­bar, ande­re bre­chen völ­lig zusam­men, wie­der ande­re wid­men sich Rou­ti­ne­tä­tig­kei­ten, als wäre nichts gesche­hen. In die­ser Pha­se wer­den die Betrof­fe­nen meis­tens von Ange­hö­ri­gen und Freun­den unter­stützt, die ihnen auch dabei hel­fen, ihre Emo­tio­nen zu kon­trol­lie­ren – was den Über­gang zur nächs­ten Pha­se einleitet. 

DIE KONTROLLIERTE PHASE    
Gera­de in den ers­ten Tagen nach einem Todes­fall muss der Mensch trotz des mög­li­chen Zusam­men­bruchs sei­ner Welt funk­tio­nie­ren und agie­ren, da es neben der Beer­di­gung unzäh­li­ge Din­ge zu erle­di­gen gilt. Daher wer­den in die­ser Pha­se durch eige­ne und frem­de Akti­vi­tä­ten die Emo­tio­nen kon­trol­liert, um einen mög­li­chen Zusam­men­bruch zu ver­hin­dern und not­wen­di­ge Din­ge erle­di­gen zu können. 
Der betrof­fe­ne Mensch ver­sucht selbst, sei­ne Emo­tio­nen unter Kon­trol­le zu hal­ten, und er wird dabei von Ange­hö­ri­gen und Freun­den aktiv unter­stützt. Der Trau­ern­de soll so ent­las­tet wer­den, damit er die eige­nen Kräf­te zur Selbst­kon­trol­le auf­brin­gen kann. Die star­ke emo­tio­na­le Selbst­kon­trol­le in Ver­bin­dung mit den geschäf­ti­gen und hek­ti­schen Tagen kurz nach einem Todes­fall erzeugt beim trau­ern­den Men­schen aller­dings eine gewis­se Distanz, als zöge ein Film an ihm vor­über, an dem er nicht betei­ligt ist. In die­ser Pha­se der Kon­trol­le stellt sich oft ein Gefühl der Lee­re ein, da man die Emo­tio­nen ja zurück gestellt hat und des­halb nichts so rich­tig spü­ren kann. Die kon­trol­lier­te Pha­se endet meis­tens nach der hek­ti­schen Zeit bis zur Beer­di­gung, wenn Ver­wand­te und Freun­de wie­der abge­reist sind. 

DIE PHASE DER REGRESSION     
Der All­tag ohne den Ver­stor­be­nen setzt ein, und die inten­si­ve Hil­fe und Unter­stüt­zung der ers­ten Tage sind nicht mehr in die­sem Umfang vor­han­den. Nun wird der Trau­ern­de mit aller Macht mit dem All­tag ohne den ver­lo­re­nen Men­schen kon­fron­tiert, er zieht sich von der Welt zurück, ver­spürt eine Fül­le unter­schied­li­cher Emo­tio­nen und fühlt sich ob des Zusam­men­bruchs sei­ner Welt oft hilf­los und gelähmt.
Hilfs­an­ge­bo­te und Auf­mun­te­rungs­ver­su­che von Freun­den und Ange­hö­ri­gen wer­den zwar einer­seits gewünscht, ande­rer­seits aber doch oft abge­lehnt, weil sie zum Teil als sinn­los oder als zu anstren­gend emp­fun­den wer­den. In die­ser Pha­se fühlt sich der Trau­ern­de weder der Welt der Leben­den so rich­tig zuge­hö­rig noch der unter­ge­gan­ge­nen Welt mit dem Ver­stor­be­nen, von dem er sich noch nicht gelöst hat; er ver­sinkt in Hilf­lo­sig­keit, Depres­si­on und Ver­zweif­lung und ver­spürt ein Gefühl der Unwirklichkeit. 

In die­ser Pha­se wer­den die trau­ern­den Men­schen oft von Schlaf­lo­sig­keit geplagt, die eine per­ma­nen­te Müdig­keit und Mat­tig­keit zur Fol­ge hat. Auch Appe­tit­lo­sig­keit und ein Man­gel an Antriebs­kraft stel­len sich ein, oft ist allein das Anzie­hen ein schwe­rer und anstren­gen­der, irgend­wie sinn­lo­ser  Schritt. Zur inne­ren und äuße­ren Ent­las­tung grei­fen etli­che Men­schen dann zu Hilfs­mit­teln wie Tablet­ten, Dro­gen oder Alko­hol, was zu einem ech­ten Pro­blem wer­den kann, wenn dies zu häu­fig oder zu lan­ge geschieht. 

DIE PHASE DER ADAPTION   

Lang­sa­me Rück­kehr ins Leben und neue Bezie­hungs­fä­hig­keit. Der Trau­ern­de ver­sucht, lang­sam wie­der in sein altes Leben zurück­zu­kom­men, aber der Ver­lust wird immer im Her­zen blei­ben. Doch der Trau­ern­de kann sich nicht ewig zurückziehen. 

Die Trau­er­be­wäl­ti­gung läuft in die­ser Pha­se kei­nes­wegs kon­ti­nu­ier­lich ab: Kurz­zei­ti­ge Rück­schrit­te in vor­he­ri­ge Sta­di­en des Trau­er­pro­zes­ses sind mög­lich. Dabei kann die gan­ze Schwe­re der Trau­er wie­der da sein, doch klin­gen die Abschnit­te meist schnel­ler ab.   

Hier muss ich  ein Veto einlegen:

Wenn Du Dir die in der Schock­pha­se beschrie­be­nen Sym­npto­me anschaust, wirst Du fest­stel­len, dass es sich hier­bei um aku­te Belas­tungs­re­ak­tio­nen han­delt, die in ihrer Schwe­re vari­ie­ren und trau­ma­ti­sche Aus­ma­ße anneh­men kön­nen. Wie lan­ge die­se Pha­se dau­ert, hängt eben nicht nur davon ab, ob der Tod erwar­tet wur­de oder ob es sich um einen Unfall, Sui­zid oder ein Ver­bre­chen handelte.

Es kommt in ers­ter Linie auf die inner­psy­chi­sche Ver­ar­bei­tung an.

Wie reagiert der Orga­nis­mus bei einem Schock­erleb­nis (Trau­ma)?

Fight or Flight

Die natür­li­che Reak­ti­on des Orga­nis­mus auf ein über­wäl­ti­gen­des Ereig­nis ist eine enor­me Mobi­li­sie­rung von Über­le­bens­en­er­gie. Die­se wird zum Zwe­cke des Kamp­fes oder zur Flucht aufgebaut.

Ver­än­de­run­gen im sym­pa­thi­schen Teil des auto­no­men Ner­ven­sys­tems ermög­li­chen Mus­keln und lebens­wich­ti­gen Orga­nen eine stär­ke­re Ver­sor­gung mit Blut­glu­co­se. Den Ske­lett­mus­keln wird somit mehr Ener­gie zuge­führt wird, was den Orga­nis­mus in die Lage ver­setzt, bes­ser kämp­fen oder vor gefähr­li­chen Situa­tio­nen flie­hen zu kön­nen (Huber 2007, S. 41).

Free­ze and Fragment

Sind in dem ent­spre­chen­den Moment weder Kampf noch Flucht mög­lich, erstarrt der Mensch und das gesam­te Ereig­nis wird mit Hil­fe der hohen Ener­gie zum Schutz des Men­schen “ein­ge­fro­ren” (Free­ze).

Vom Moment der Free­ze-Reak­ti­on an, wenn also die Schock­star­re beginnt, ist klar: Jetzt fin­det für den Men­schen das Ereig­nis als Trau­ma statt und nicht mehr “nur” als belas­ten­des Lebensereignis.

Mit Free­ze ist aber auch eine Läh­mungs­re­ak­ti­on gemeint: »Es ist, als ob das Gehirn sich sagt: Ich brin­ge den Orga­nis­mus nicht erfolg­reich aus der Situa­ti­on her­aus, und ich kann den aggres­si­ven Reiz nicht äußer­lich nie­der­rin­gen – also muss ich genau dies intern tun: Ich mache den aggres­si­ven Reiz unschäd­lich und erlau­be dem Orga­nis­mus, sich inner­lich davon zu distan­zie­ren. Eine Flut von Endor­phi­nen – schmerz­be­täu­ben­den kör­per­li­chen Opi­aten – hilft bei die­sem “geis­ti­gen Weg­tre­ten” und der “Neu­tra­li­sie­rung” aku­ter Todes­angst. Auch das Nor­ad­re­na­lin aus der Neben­nie­ren­rin­de, das zunächst zum “Tun­nel­blick” ver­hilft, kann, wenn viel davon durch den Kör­per rast, die nor­ma­ler­wei­se inte­gra­ti­ve Wahr­neh­mung blo­ckie­ren. Der Mensch müss­te jetzt eigent­lich schrei­en, um Hil­fe rufen, wei­nend zusam­men­bre­chen – doch oft bedeu­tet die “Freeze”-Reaktion nichts ande­res als eine Ent­frem­dung vom Gesche­hen. Vie­le Men­schen wer­den erst deut­lich spä­ter die­se eigent­lich nor­ma­len Reak­tio­nen bekom­men – wenn sie hin­ter­her in Sicher­heit sind und ihr gesam­tes Hirn wie­der “her­un­ter­ge­schal­tet” ist aus dem Alarm­zu­stand und schrei­en. Aber die meis­ten tun es jetzt noch nicht, nicht wenn inner­lich erst ein­mal alles erstarrt” (Huber 2007, S. 43).

In die­ser inne­ren Schock­star­re bleibt der Mensch gefan­gen: die Ent­fal­tung der Lebens­en­er­gie wird unter­drückt, es kommt zu einer Unter­bre­chung der Ver­bin­dung zum eige­nen Selbst, zu ande­ren Men­schen, zur Natur und zur eige­nen geis­ti­gen Quel­le. Wenn die über­schüs­si­ge Ener­gie nach dem Ereig­nis nicht wie­der auf­ge­löst wer­den kann, bleibt sie im Ner­ven­sys­tem gebun­den (Jean Shah­baz, www.traumaheilung-berlin.de).

“Dann … kommt das Mit­tel des Frag­men­tie­rens [Her­vor­he­bung im Ori­gi­nal] hin­zu: Die Erfah­rung wird zer­split­tert, und die­se Split­ter wer­den so “weg­ge­drückt”, dass das äuße­re Ereig­nis nicht mehr (jeden­falls nicht ohne spä­te­re geziel­te Anstren­gun­gen) zusam­men­hän­gend wahr­ge­nom­men und erin­nert wer­den kann” (Huber 2007, S. 43).

Dies sind die Schutz­me­cha­nis­mus, die Men­schen eine Zeit­lang nach dem belas­ten­den Ereig­nis funk­tio­nie­ren lassen.

Es ist nach mei­nem Dafür­hal­ten nicht ganz ein­fach, zwi­schen Trau­ma und Schock­pha­se wäh­rend des Trau­er­pro­zes­ses zu unter­schei­den. Umso wich­ti­ger ist es, dass man hier genau­er hin­schaut und trau­ma­ti­sche Sym­pto­me nicht ein­fach als Trau­er oder kom­pli­zier­te Trau­er abtut.

Spe­zi­ell bei Men­schen mit Mor­d­er­fah­run­gen erle­be ich das immer wie­der. Zu oft dia­gnos­ti­zie­ren so genann­te “Exper­ten” die­sen Men­schen eine kom­pli­zier­te Trau­er, weil sie nicht sehen oder es nicht wahr­ha­ben wol­len, dass hier ein Psy­cho­trau­ma mit  dazu­ge­hö­ri­gen Trau­ma­fol­ge­re­ak­tio­nen  vor­liegt. Zumal wenn die Sym­pto­me dabei sind, zu chro­ni­fi­zie­ren, heißt es oft: “Ach was, das ist kein Trau­ma, der oder die­je­ni­ge kommt bloß mit ihrer Trau­er nicht klar.”

Solan­ge der Mensch in sei­nem Trau­ma steckt, wel­ches noch nicht bear­bei­tet ist, und solan­ge die Ange­hö­ri­gen noch damit beschäf­tigt sind, sich um Din­ge wie Beer­di­gung, der Auf­klä­rung des Ver­bre­chens, der Wahr­neh­mung von Pro­zess- und Gerichts­ter­mi­nen uvm. zu küm­mern, haben sie gar kei­ne Zeit zu trau­ern. Sie funk­tio­nie­ren wie Robo­ter. Vie­le Betrof­fe­ne berich­ten mir, dass sie erst dann trau­ern kön­nen, wenn der Mör­der hin­ter Schloss und Rie­gel sitzt und der Pro­zess end­lich abge­schlos­sen ist. Danach könn­ten sie sich emo­tio­nal mit dem Tod und dem Abschied von ihrem gelieb­ten Men­schen aus­ein­an­der­set­zen und rea­li­sie­ren, dass der Ver­stor­be­ne nicht zurückkommt.

Erst der Abschluss des Mord­pro­zes­ses, das Schlie­ßen der Akten und die end­gül­ti­ge Gewiss­heit, alles getan zu haben, was zur Auf­klä­rung und Ergrei­fung des Mör­ders geführt hat, gibt den Ange­hö­ri­gen die Mög­lich­keit, über­haupt erst mit der Trau­er­ar­beit begin­nen zu kön­nen. Bis es soweit ist, ver­ge­hen mit­un­ter dahin vie­le Jah­re. Bis dahin funk­tio­nie­ren die Betrof­fe­nen nur und “hal­ten sich irgend­wie am Leben”.

Lei­der muss man hier sagen, gibt es Fäl­le, die gar nicht vor Gericht kom­men, wo der Leich­nam nicht vor­han­den ist oder eine ver­miss­te Per­son nicht gefun­den wird. Das macht die Sache noch schwieriger.

Sicher­lich setzt irgend­wann der Trau­er­pro­zess ein. Näm­lich dann, wenn die Hin­ter­blie­be­nen sich damit aus­ein­an­der set­zen. Wenn ihnen wirk­lich bewusst wird, dass das Gesche­he­ne nicht rück­gän­gig gemacht wer­den und der Ver­stor­be­ne nicht mehr zurück­kom­men kann.

Ich will auch nicht grund­sätz­lich sagen, dass es im Trau­er­pro­zess kei­ne Schock­pha­se gibt. Vere­na Kast nennt sie die Pha­se des “Nicht-wahr­ha­ben-wol­lens”. Die ist sicher­lich vor­han­den. Aber ich wür­de die­se Pha­se auch nicht grund­sätz­lich in den Trau­er­pro­zess schie­ben. Dies kann man nur dann tun, wenn sicher­ge­stellt ist, dass es sich bei der Sym­pto­ma­tik nicht um trau­ma­ti­sche Sym­pto­me handelt.

Trau­er kommt nicht in Pha­sen, son­dern in Wellen

(Quel­le: www.trauerphasen.de)

Die For­schun­gen von Prof. Geor­ge Bon­an­no haben erge­ben, dass Trau­er und Schmerz nicht in den bis­her ange­nom­me­nen Pha­sen auf­tre­ten, son­dern dass sie viel­mehr in Wel­len kom­men, die mit der Zeit immer kür­zer und weni­ger inten­siv werden…

So pen­delt der trau­ern­de Mensch hin und her – Sehn­sucht, Kum­mer, Lee­re und Schmerz sind ver­lust­be­zo­ge­ne Pro­zes­se, Ablen­kung, kurz­fris­ti­ge Ver­drän­gung, vor­wärts­ge­rich­te­tes Den­ken und Momen­te der Freu­de sind rege­ne­ra­ti­ve Prozesse…

Wie lan­ge darf man trauern?

Vie­le erhal­ten die Dia­gno­se “Anpas­sungs­stö­rung”, “Depres­si­on” oder der­glei­chen., wenn die Sym­pto­ma­tik län­ger als 6 Mona­te anhält bzw. die Sym­pto­me sich nicht abschwächen.

Mei­nes Erach­tens ist es nicht als patho­lo­gisch zu betrach­ten, wenn ein Mensch nach einer “ange­mes­se­nen” Zeit noch immer trau­ert und sich an die neue Situa­ti­on nicht “anpas­sen” kann. Nach mei­ner Erkennt­nis sol­len Men­schen sich des­halb anpas­sen, damit die bestehen­den Sys­te­me, in denen sie sich bewe­gen, auf­recht­erhal­ten wer­den und mög­lichst rei­bungs­los funk­tio­nie­ren. Dies dürf­te vor allem im Inter­es­se von Kran­ken­kas­sen, Poli­ti­kern und Arbeit­ge­bern sein.

Jeder Mensch ist ein­zig­ar­tig und wert­voll, und genau­so ein­zig­ar­tig und wert­voll sind sei­ne Lösungs­ver­su­che und Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien. Men­schen, die einen Ange­hö­ri­gen durch ein Gewalt­ver­bre­chen ver­lo­ren haben, wer­den nie auf­hö­ren zu trau­ern. Und das müs­sen sie auch nicht. Nie­mand kann mir vor­schrei­ben, wie lan­ge und wie stark ich zu trau­ern habe.

War­um wird die Kau­sa­li­tät bei Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen nicht anerkannt?

Mir ist wich­tig zu ver­ste­hen, dass die Kau­sa­li­tät in der Behand­lung von
Erkran­kun­gen eine enor­me Wich­tig­keit hat. Dies hat gro­ße Aus­wir­kun­gen auf die
Behand­lung und den Hei­lungs­er­folg. Aller­dings, und das darf ich an die­ser Stel­le in
aller Deut­lich­keit sagen, hat unser Gesund­heits­sys­tem kein Inter­es­se dar­an, dass
Men­schen wirk­lich gesund werden.

Was für die meis­ten von uns offen­sicht­lich ist, wur­de mir in einem offiziellen
Gespräch mit der Ber­li­ner Senats­ver­wal­tung für Gesund­heit und Sozia­les nochmal
knall­hart und unver­fro­ren ins Gesicht geschleudert:

“Wis­sen Sie, unser Gesund­heits­sys­tem ist so auf­ge­baut, dass nach der Kau­sa­li­tät von Erkran­kun­gen nicht gefragt wird. Es wird immer nur die jewei­li­ge Erkran­kung (= Sym­ptom, Anm. d. Autorin) behan­delt. Die Ursa­che spielt dabei kei­ne Rolle.”

Das süf­fi­san­te Grin­sen mei­ner Gesprächs­part­ne­rin schien mir zu sagen: “Und du
klei­nes Würst­chen kannst nichts dage­gen tun, wir sit­zen doch am län­ge­ren Hebel”.

Wie para­dox!

Denn auch die Funk­tio­nä­re in den Gre­mi­en, Ver­wal­tun­gen und Minis­te­ri­en sind Men­schen, die krank wer­den und ster­ben kön­nen. Anschei­nend sind sich die­se Leu­te ihrer eige­nen Ver­letz­bar­keit und End­lich­keit gar nicht bewusst. Es sei denn, sie ver­fü­gen über genü­gend Geld und das ent­spre­chen­de Wis­sen, um sich  heim­lich und im Ver­bor­ge­nen bei Scha­ma­nen, Geist­chir­ur­gen oder “Schar­la­ta­nen” behan­deln zu las­sen. Oder sie haben zu Hau­se einen Jung­brun­nen, in den sie stei­gen, um dann wie Phoe­nix aus der Asche geheilt und erfrischt wie­der aufzuerstehen.

Wenn ich mir aller­dings unse­re Ent­schei­der so anschaue, scheint mir dies eher
unwahr­schein­lich zu sein. Das bringt mich unwei­ger­lich zu der Annah­me, dass dahin­ter ein grö­ße­rer Plan steckt, dem unse­re Gesetz­ge­ber fol­gen, wis­sent­lich oder unwis­sent­lich. Es mag jeder dar­über den­ken, wie er will. Und man mag mich auch als
Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ke­rin ver­schrei­en. Wer mit offe­nen Augen und Ohren durchs Leben geht, wird bald mer­ken, wie der Hase wirk­lich läuft.

Mir fällt da ein­mal mehr die­se Weis­heit von Buck­mins­ter Ful­ler ein, die da heißt:

«Man schafft nie­mals Ver­än­de­rung, indem man das Bestehen­de bekämpft.
Um etwas zu ver­än­dern, baut man neue Model­le, die das Alte über­flüs­sig machen.»


Lite­ra­tur:

Huber, M. (2007): Trau­ma und die Fol­gen. Trau­ma und Trau­ma­be­hand­lung, Teil 1 – 3. Auf­la­ge, Junfermann.

Shah, H. & T. Weber (2015): Trau­er und Trau­ma: Die Hilf­lo­sig­keit der Betrof­fe­nen und der Hel­fer und war­um es so schwer ist, die jeweils ande­re Sei­te zu ver­ste­hen. — 2. korr. Auf­la­ge, Asanger.

Ein Gedanke zu „Wie unter­schei­det man Trau­ma und Trauer?

  1. Die The­sen tref­fen tief und stim­men mit mei­nen Erfah­run­gen über­ein! Die ein­zel­nen Pha­sen der Trau­er, ken­nen aller­dings kei­ne fes­te Rei­hen­fol­ge und erfah­ren auch kei­ne Regie. Sol­che Tref­fen mit Sena­to­rin­nen oder Sena­to­ren sind in der Sache Per­see abschre­ckend und fin­den wenig Reso­nanz. Man darf von die­sen Per­so­nen, die sich selbst ger­ne als Per­sön­lich­keit sehen, kei­ne rea­le Unter­stüt­zung erwar­ten. Dies sind Per­so­nen, die fach­lich nicht für dif­fe­ren­zier­te Gesprä­che geeig­net sind und Die Zeit der Amts­aus­übung für ihre per­sön­li­che Zukunfts­ge­stal­tung ver­wen­den. Mit die­sem Wis­sen aus­ge­stat­tet, fällt es einem leich­ter die­sen Per­so­nen­kreis zu mei­den. Hil­de­gard Knef sag­te mir bei einer Begeg­nung in ihrem Haus, als ich stau­nend vor ihr stand, ” mach den Mund wie­der zu Klee­ner, ick bin nich anders als die Ande­ren, beim Kacken machen wir alle die Bee­ne krumm”! Also sind alle Men­schen gleich? Auch in ihrer erleb­ten Trau­er? Die Fra­ge kön­nen Poli­ti­ker per­sön­lich trau­ern, um einen Raum für der­ar­ti­ge Gefüh­le und Momen­te zu bege­hen? Ja, es sind genau­so in Trau­er funk­tio­nie­ren­de. Aber das eigent­li­che The­ma, näm­lich Trau­er und Trau­ma, soll­te die­sen Teil ihres per­sön­lich erleb­ten kei­nen Raum bie­ten. Das wesent­li­che ist, dass die GKV’s sich dies­be­züg­lich selbst­re­gu­lie­rend von ihren Leis­tun­gen unter­schei­den. So kann kein poli­ti­scher Repre­sen­tant einer obe­ren Behör­de, deren Leis­tun­gen und nicht Leis­tun­gen beein­flus­sen. Es sind die Fach­aus­schüs­se die einen Rah­men flech­ten, der ledig­lich stan­dar­di­sier­te Min­dest­leis­tun­gen fest­le­gen. Ich fin­de ihren Bei­trag über Trau­er und Trau­ma sehr gut, jedoch soll­ten die Mei­nun­gen von Wahl­be­am­ten in einen geson­der­ten Anhang Platz finden.
    Vie­len Dank
    Micha­el Ulrich (60 Jah­re, Sohn am 15.10.2018 im Alter von nur 22 Jah­ren im Schlaf, bei uns in sei­nem Zim­mer, an Herz­still­stand verstorben!)

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